Einen peinlichen, ja gefährlichen Moment stellt die buntfarbige und vielfigurige Bildszene in der Miniaturensammlung der Residenz dar: Im Schatten eines gewaltigen Zelts demütigt sich eine Gruppe verängstigter Frauen unterschiedlichen Alters auf Knien vor zwei jungen Militärs, die rechter Hand in voller Rüstung paradieren. Offensichtlich ist es eine Stunde der (männlichen) Sieger – wird die Stimmung umschlagen und sich gegen die wehrlosen Zivilistinnen und ihre wenigen, ältlichen Begleiter richten, die um Schonung flehen?
Allerdings handelt es sich nicht um ein allgemein gefasstes Kriegsszenario, sondern um das konkret benennbare Nachspiel einer der berühmtesten Schlachten des Altertums überhaupt: Der griechische Historiker Plutarch und der römische Autor Curtius Rufus berichten, wie der Makedone Alexander „der Große“ nach seinem ersten bedeutenden Sieg über den persischen Herrscher Dareios III. bei Issos in Kleinasien (genau: „333 bei Issos große Keilerei“!) im feindlichen Lager außer unermesslicher Beute auch den Harem des geflohenen Großkönigs vorfand. Dort harrten nicht nur die Mutter des Dareios, die greise Sisygambis, und seine Schwestergemahlin Stateira, sondern auch Töchter und Konkubinen zusammen mit Wächter-Eunuchen und Sklaven ängstlich ihres Schicksals.
Als Alexander in Begleitung seines Favoriten Hephaistion das Zelt der Frauen betrat, habe sich Sisygambis dem unbekannten Eroberer zu Füßen geworfen, um ihn durch Unterwerfung gnädig zu stimmen. Leider unterlief ihr in ihrer Nervosität eine folgenschwere Verwechslung und sie umklammerte die Knie des Hephaistion – die einen sagen, weil der eine prächtigere Rüstung als sein Freund trug, die anderen, weil der große Alexander ein solcher Winzling gewesen sei, dass man ihn unmöglich als siegreichen Feldherrn habe ernst nehmen können. In Krisensituation sind aber gerade solche Protokollfehler (oder im feinen Diplomatenjargon: „Fauxpas“) echte Brandbeschleuniger der Eskalation, wie auch heute noch ein beiläufiger Blick in die internationale Tagespresse bestätigt. Die rasch aufgeklärte und nun erst recht geschockte Sisygambis macht sich also für ihre Familie spätestens jetzt auf Vergewaltigung, Sklaverei und Tod gefasst, als – oh Wunder! – der edle Makedonenherrscher gänzlich unbeleidigt mit royalem Eroberercharme in die Offensive geht und die Situation galant rettet: Sein geliebter Hephaistion sei sein zweites ich – in ihm habe die Königinmutter ihn, Alexander, wahrhaft geehrt! In der Folge löst sich alles in Wohlgefallen auf – die Frauen werden durch den tugendhaften Alexander ihrem Rang gemäß würdevollst behandelt, er selbst nimmt später die älteste Tochter seines Feindes zur Frau, und alle sind glücklich (– außer Dareios III.: der wird auf der Flucht erschlagen…).
Zusammen mit einer Handvoll anderer Anekdoten avancierte die Szene im Laufe der Jahrhunderte zum klassischen Beispiel der vorbildlichen Tugendhaftigkeit des Alexander, der im Rausch unermesslicher Erfolge und noch als Gebieter über ein nie gesehenes Weltreich nicht dem Größenwahn verfallen, sondern persönliche Bescheidenheit und Selbstkontrolle als rare Herrscherqualitäten bewahrt habe. Das machte den alten Makedonen vor allem im Zeitalter der Renaissance und des Barock zum beliebtesten Rollenvorbild frühneuzeitlicher Herrscher.
Alle ließen sie sich (egal wie klein die eigene Hausmacht) im Bild und auf der Bühne als neue Alexander, als früh vollendete Eroberer von Orient und Okzident, als Städtegründer, Kulturbringer und Götter auf Erden verherrlichen. Und als tugendhaft! Das ging, weil die Propaganda die gleichfalls historisch überlieferten Schattenseiten des „Megas Alexandros“ unterschlug, die weniger geeignet schienen, in gedrechselten „Alexandrinern“ besungen zu werden, wie: diverse Verwandtenmorde, Massenhinrichtung überwundener Gegner, Trunksucht und Totschlag im Affekt.
Kein Wunder also, dass auch am Münchner Hof der Wittelsbacher Alexander vielfach präsent war – und noch ist: Außer in der hier vorgestellten Bildszene tritt er allein in der Miniaturensammlung der Residenz noch zwei weitere Male auf:
Johann Wilhelm Baur († 1642) zeigt ihn, wie er siegreich in Babylon einzieht, dessen mächtige Befestigungsmauern bis zu ihrer Zerstörung zu den Sieben Weltwundern gerechnet wurden. Nicht zufällig ähnelt der Eroberer zum Beispiel hier mit Kinnbärtchen Baurs Auftraggeber, dem Habsburger Kaiser Ferdinand III., dessen Kriegsfahne auch hinter dem Triumphwagen weht. Auf einer weiteren Miniatur kniet Alexander als Eroberer Jerusalems freiwillig vor dem Hohepriester Jehovas nieder (siehe oben) – noch so ein beliebtes Tugendexempel, das ihn diesmal als proto-christlichen Idealherrscher vereinnahmen sollte. Und auch später, im 19. Jahrhundert, gelangte eine kleine Leinwandkopie nach einem berühmten römischen Renaissance-Fresko Sodomas in die Residenz, das die Hochzeit des jugendlichen Heros mit der schönen baktrischen Prinzessin Roxane verherrlicht.
Im Großformat hingegen erschien Alexander vielfach an den Decken unseres Schlosses. Hier ließ ihn Maximilian I. (reg. 1597-1651) mit anderen vorbildlichen Monarchen der Antike als steten Ansporn an sich selbst um 1600/05 in seiner Sommerwohnung darstellen. Wiederum Maximilians Enkel, Kurfürst Max Emanuel (reg. 1679-1726), widmete – sofort nach Regierungsantritt und als weithin sichtbaren Spiegel eigener Ambitionen – dem erfolgreichen Feldherrn und charismatischen Weltbeherrscher gleich sein ganzes, neu ausgestattes Appartement: Es sind die leider schon im frühen 18. Jh. umgebauten „Alexanderzimmer“, denen bei Gelegenheit ein eigener Blogbeitrag gewidmet werden soll. Und auf der Münchner Opernbühne triumphierte auf italienisch und mit höchsten (Kastraten-)Tönen „Alessandro nell’Indie“ über den exotischen Riesenkönig Porus (1723).
Bei seiner Selbstinszenierung eiferte der gleichermaßen kriegerische wie galante Max Emanuel vor allem dem prominentesten unter den „neuen Alexandern“ der Epoche nach: Seinem bewunderten Vorbild, dem französischen König Ludwig XIV., aus dessen Umfeld auch die monumentale Inspiration für unsere (übrigens mit einem Bildmaß von 65 x 88 cm selbst sehr stattliche) Miniatur hervorging: Vor allem in jüngeren Jahren hatte der spätere „Roil Soleil“ seine Selbstdarstellung im Medium der Künste ganz auf seine Inkarnation als wiedererstandener Makedonenherrscher ausgerichtet. Als besonders einflussreiches Projekt erwies sich hierbei die Schilderung der wichtigsten Alexander-Taten in einem Gemäldezyklus seines „Premier Peintre“ Charles Le Brun (1661/68). Das erste dieser fünf Gemälde, mit dem Le Bruns Aufstieg zum zeitweilig fast allmächtigen Hofkünstler seinen Anfang nahm, war das sogenannte „Zelt des Darius“ – es diente unserer Miniatur als weithin berühmte Vorlage.
Diesen internationalen Ruhm hatte die französische Kunstpolitik mit großem Aufwand und unter hohen Kosten instrumentiert: Die zum Teil riesenhaften Leinwände, die heute viele Quadratmeter Wand des Pariser Louvre bedecken, dienten ab 1664 als Bildvorlagen für eine Umsetzung ins Medium der Tapisserie durch die bald weithin geschätzte „Manufacture des Gobelins“. Diese Teppiche, die sogenannte „Tenture d’Alexandre“, verbreiteten ab etwa den 1680er Jahren wirkmächtig Le Bruns Bildideen (und den Ruhm Ludwigs) europaweit und erreichten auch kleinere Höfe, zum Beispiel die der fränkischen Fürstbischöfe. So ist etwa heute in den Räumen der Würzburger Residenz eine Brüsseler Nachwebung (nach 1700), versehen mit dem Wappen des Johann Philipp von Greifenclau, zu besichtigen.
Schon früher auf dem Markt (und leichter zu verbreiten als die sündhaft teuren Tapisserien) waren zudem Reproduktionsgraphiken, welche die namhaften Kupferstecher Gérard Edelinck und Gérard Audran nach den Bildern schufen. Da unser Kleingemälde im Vergleich zu Le Bruns Original die Figuren seitenverkehrt zeigt, darf davon ausgegangen werden, dass diese (durch das Druckverfahren gleichfalls gespiegelten) Kupferstiche dem Miniaturisten als unmittelbare Vorlage dienten.
Innerhalb des Zyklus nahm das „Zelt des Darius“ von Anfang an eine Sonderrolle als eine Art „Programmbild“ der französischen Kunstpolitik und Herrschaftspropaganda unter Ludwig XIV. ein – der gepinselte Angriff der unbeugsamen Gallier auf die bis dato dominante Führungsposition der italienischen Malerei. In diesem Sinne veröffentlichte André Félibien (1619-1695), Kunsthistoriograph Ludwigs XIV., 1663 eine beschreibende Abhandlung über das Gemälde, in der er unter anderen Vorzügen die perfekte und gleichsam akademisch disziplinierte Darstellung der verschiedenen Leidenschaften, welche die Bildfiguren beherrschen, herausstrich: Tatsächlich reagieren die verängstigten Haremsdamen ganz unterschiedlich auf den Moment, in dem durch Sisygambis‘ ungewollte Beleidigung des Alexander ihr Schicksal in der Schwebe hängt: Hoffnung, Panik, Verzweiflung, vorsichtiges Vertrauen, Skepsis sind modellhaft den einzelnen Frauen, den Eunuchen und Sklaven zugeordnet.
Es war ein künstlerisches Hauptziel Le Bruns, diese „expressions des passions“ gewissermaßen katalogartig zu systematisieren und für die Maler lehrbar zu machen. Damit lag er voll im Trend, denn den menschlichen Affekten und ihrer Kontrolle galt ein Hauptinteresse der Gesellschaft des 17. Jahrhunderts. Jederzeitige Affektbeherrschung war eine der fundamentalen Forderungen an einen erfolgreichen Höfling, der stets seine soziale Rolle zu wahren und zu spielen hatte. Der musikalisch gebändigte Ausbruch der Affekte hingegen war zentrales Sujet und Erfolgsrezept der barocken Oper. Dass es Alexander gelang, angesichts der unterworfenen Frauen seine Affekte zu zügeln und seinen verwundeten Stolz zu bezwingen, machte ihn für den zeitgenössischen Betrachter eben erst zum wahren (Tugend-)Helden. Dass er dies vermochte in dem Moment, in dem sein sozialer Rang durch die Bevorzugung des untergebenen Hephaistion in Frage gestellt wurde, ließ diese Tugend in den Augen einer höfischen Gesellschaft, die sich vor allem über Hierarchien und zeremonielle Hackordnungen definierte, nur noch bewundernswürdiger erscheinen.
Wie sehr ein solch aufgeladenes Kunstwerk im Rahmen herrschaftlicher Selbstinszenierung eine Rolle spielen konnte, zeigt auch der spätere Einsatz von Le Bruns Gemälde: In den 1680er Jahren hing das „Zelt des Darius“ zusammen mit einem berühmten Bild des Paolo Veronese, das „Christus mit den zwei Jüngern im Emmaus“ darstellte, im Schloss von Versailles, nämlich im größten Raum von Ludwig XIV. prunkvollem Appartement, dem „Salon de Mars“.
Hier empfing der König mehrmals die Woche seinen Hofstaat, um die Höflinge mit Glücksspiel, Konzerten und Tanz zu unterhalten. Der Salon de Mars war für das gemeinsame Spiel reserviert und damit bestand für jeden Gast die Möglichkeit, Ludwig XIV. selbst als Spielpartner gegenüberzusitzen. Eine brenzlige Situation, denn einerseits bot sich hier theoretisch die seltene Gelegenheit, dem Herrscher allerhand vorzutragen oder ihn um eine Gunst zu bitten. Andererseits war es heikel, den mächtigsten Monarchen Europas beim Kartenspiel abzuzocken und verlieren zu lassen. Die Lösung bestand darin, dass offiziell ein royales „Incognito“ verkündet wurde: Der König verzichtete für die Dauer des Abends freiwillig auf seinen Rang und bestand darauf, als Gleicher unter Gleichen behandelt zu werden. Er entäußerte sich also großmütig seiner Herrschersposition und bewies damit im Spiel wahrhafte Souveränität. Hans Körner hat in einem Aufsatz gezeigt, wie Le Bruns Gemälde, in dem ein Mächtiger durch Verzicht auf seinen Vorrang Gnade und Huld erweist, diese Haltung Ludwigs XIV. sozusagen vorstellte, historisch wie künstlerisch überhöhte und die Gleichsetzung der zwei Tugenhelden Alexander und Ludwig plausibel machte. Gesteigert wurde das Ganze durch das Pendant-Bild, denn auch der auferstandene Christus des Paolo Veronese wird laut biblischem Bericht in Emmaus von den beiden Jüngern zunächst nicht erkannt und „auf Augenhöhe“ behandelt, bis er sich ihnen beim gemeinsamen Mahl in seinen göttlichen Rang gnädig offenbart.
Ob unsere kleine Kopie dieses so bedeutungsschwangeren Motivs im kostbaren Miniaturenkabinett der bayerischen Herrscher eine ähnliche Rolle spielen sollte? Immerhin nimmt es einen prominenten Platz an der nördlichen Schmalseite des winzigen Prunkraums ein: Zu Seiten der Alexander-Szene aufgereiht sind allein Miniaturkopien nach Gemälden des kurbayerischen Hofmalers F. J. Beich, welche die barocken Paläste und Schlösser der Wittelsbacher, also die stolzen Monumente ihrer fürstlichen Stellung, abbilden. Und direkt unter dem zunächst unerkannten Alexander ziert der große Kaminspiegel die Wand und stellt dem, der hineinblickt die Frage: „Wer bin ich – was stelle ich dar, was ist echt, der Mensch oder seine Spiegelung?“