Lieblingsstücke unserer Autoren, Residenz München

Ein histori(sti)scher Rechtsfall: Das restaurierte „Urteil Salomos“ aus dem Residenzappartement König Ludwigs II.

Rasch zu urteilen fällt uns oft leicht – zunehmend im gegenwärtigen Zeitalter schnell aufkochender medialer Empörung. Dabei ist ein gerechtes, zumindest abgewogenes Urteil zu treffen bekanntermaßen schwer, nicht zuletzt im Kultursektor! So wurde zum Beispiel die künstlerische Produktion, die Bayerns allseits geschätzter „Märchenkönig“ Ludwig II. (reg. 1864-1886) begeistert initiierte, abgesehen von seiner Wagner-Förderung lange Zeit als „monumentaler Kitsch“ kritisiert. Erst seit wenigen Jahrzehnten erfahren seine legendären Schlösser samt Ausstattung ihre ästhetische Rehabilitierung und werden heute als weltkulturerbeverdächtige Exzellenzbeispiele des internationalen Historismus gefeiert. Mit einem charakteristischen Erzeugnis dieser Kunst wollen wir uns in diesem Beitrag beschäftigen.

Ferdinand Piloty, Das Urteil Salomos, 1868, Residenzmuseum, Depot

Ferdinand Piloty, Das Urteil Salomos, 1868, Residenzmuseum, Depot

Es handelt sich um ein jüngst restauriertes Leinwandgemälde und gehört zu den raren Stücken, die nach der Kriegszerstörung von Ludwigs berühmten Wohnappartement hoch über dem Münchner Odeonsplatz im Frühjahr 1944 heute noch in der Residenz an den geheimnisvollen „Kini“ erinnern. Und wie es der Zufall passend will, handelt es sich just um die Darstellung eines der für die bildenden Künste wichtigsten Urteile in der (mythologischen) Weltgeschichte! Zwar ist es nicht das so oft dargestellte Urteil des trojanischen Prinzen Paris, der aus drei Göttinnen die Schönste zu wählen hatte. Wir sehen aber eine ähnliche Figurenkonstellation: Auch auf unserem Bild ist ein junger Fürst der Antike beschäftigt, Streit zwischen Frauen zu schlichten. Aber während die zwei unterlegenen Beauty Queens des Olymp das „Parisurteil“ zum Ausgangspunkt eines mörderischen Krieges machten, praktiziert auf der Münchner Leinwand der weise Salomo clevere Rechtsfindung entlang psychologischer Indizien. Der nach diesem dritten König Israels benannte Urteilsspruch sollte über Jahrtausende hinweg sprichwörtliche Gültigkeit behalten!

Das alttestamentarische „Buch der Chroniken“ überliefert die bekannte Geschichte von den zwei jungen Prostituierten, die jeweils einen Sohn haben und in einer WG zusammenleben. Als das eine Baby den Kindstod stirbt und nicht bestimmt werden kann, wer die Mutter des lebenden Knaben ist, fordern sie die Entscheidung vor dem Thron des klugen Herrschers, denn, so die Klägerin: ihre Gegnerin „stand in der Nacht auf und nahm meinen Sohn von meiner Seite und ihren toten Sohn legte sie in meinen Arm.“

Vertrackte Situation! Doch da Gott dem Salomo auf dessen Bitte hin einst die Herrschergabe der Weisheit verlieh, weiß der König Rat, wenn dieser auch zunächst schockiert: Er verlangt ein Schwert und spricht: „Teilt das lebendige Kind in zwei Teile und gebt dieser die Hälfte und jener die Hälfte. Da sagte die Frau – denn ihr mütterliches Herz entbrannte in Liebe für ihren Sohn: Ach, mein Herr, gebt ihr das Kind lebendig und tötet es nicht!“ So deckt Salomo die Wahrheit auf und die verzweifelte Mutter empfängt ihr Baby unbeschadet zurück.

Schon sehr früh fasste man das „Salomonische Urteil“ als Exempel königlicher Gerechtigkeit und göttlich legitimierter Herrscherqualität auf. In diesem Sinne wurde es, oft kombiniert mit ähnlichen Episoden aus Geschichte und Mythos, in Palästen und an den Stätten öffentlicher Rechtspflege dargestellt, meist im Auftrage eines Mächtigen, der sich (mit welchem Recht auch immer) als „neuer Salomo“ feiern ließ. Schließlich galten Schutz und Wahrung der Justiz als Kernaufgabe des Herrschers. Davon zeugen noch heute die barocken Bildprogramme der Münchner Residenz:

Die strahlende Gerechtigkeit gehört zu den vier

Die strahlende Gerechtigkeit gehört zu den vier „weltlichen“ Kardinaltugenden, die mit den drei „göttlichen“ Glaube, Liebe, Hoffnung einen symbolischen 7er-Katalog bilden

Ende des 16. Jh. ließ Herzog Wilhelm V. die personifizierte Gerechtigkeit im Kreis anderer Fürstentugenden gut sichtbar an die Wölbung des Antiquariums freskieren. Nur wenige Jahre später befahl sein Sohn Maximilian I. nicht nur, diese Darstellungen zu erneuern sowie einen eigenen „Saal des Rechts“ auszumalen, sondern er platzierte zudem Göttin „Justitia“ in Bronze gegossen über den Haupteingang seiner Residenz, direkt neben die dort thronende Muttergottes!

Die

Die „Sonne der Gerechtigkeit“ leuchtet auf ihrer Brust! Heute wacht Justitia als Kopie am Residenztor, das Original steht geschützt in den „Bronzesälen“ am Kaiserhof

In Maximilians „Reicher Kapelle“ wiederum erscheint König Salomo persönlich gleich zweimal am prunkvollen Hauptaltar: Silberreliefs zeigen ihn mit dem umstrittenen Baby und beim Empfang der exotischen Königin von Saba, die anreiste, um die weithin bekannte Weisheit von Israels König zu ehren. In Fortsetzung solcher Bildtraditionen ließ noch eine Generation später Maximilians Schwiegertochter, die Kurfürstin Henriette Adelaide, in den 1660er Jahren ihr Audienzzimmer mit öffentlichkeitswirksamen Deckenbildern schmücken. Sie zeigen Beispiele tätiger, oftmals origineller Rechtsprechung, die antike Fürsten zugunsten ihrer einfach(st)en Untertanen übten.

 

Unser Bild ist in der unteren rechten Ecke auf 1868 datiert und vom Künstler signiert: dem Münchner Maler Ferdinand Piloty (1828-1895). Der arme Ferdinand ist heute weitgehend vergessen oder zumindest ewiger Verwechslung mit bekannteren Verwandten unterworfen, seinem Vater, dem Lithografen Ferdinand d. Ä und seinem großen Bruder, dem populären Historienmaler Karl [von] Piloty. Dessen riesenhafte Leinwände voller geschichtsträchtiger Männer, die mit visionärem Fernblick Bedeutendes tun oder bei dramatischer Beleuchtung dekorativ in den Tod gehen, bedecken noch heute quadratmeterweise die Wände der Neuen Pinakothek oder des Münchner Rathauses. Unser Ferdinand wird meist als Künstler der zweiten Reihe im Fahrwasser des berühmten Bruders gesehen. Dennoch hat er den einen oder anderen „eigenständigen“ Treffer gelandet: So verdankt man ihm das offizielle, unendlich oft reproduzierte Porträt des jungen Ludwigs II. in Uniform und Krönungsmantel. Auch wirkte er an der Ausmalung von Schloss Neuschwanstein mit, wo er um 1880 unter anderem das Speisezimmer mit Episoden aus der mittelalterlichen Sängerkriegssage schmückte. Das „Urteil Salomos“ ist allerdings nicht für Ludwigs Märchenburg im „Style der alten Ritterzeit“, sondern für andere Prunkräume entstanden, nämlich für das ab 1867 in überbordendem Neobarock ausgestattete Wohnappartement des Königs im nordwestlichen Residenzpavillon am Hofgarten. Passend zu den dortigen Prachtinterieurs, die sich an Versailler Vorbildern anlehnten, malte Piloty hier zudem eine Szene vom Hof des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. für das Schlafzimmer. Während diese sich aber in das umgebende Ambiente eines erträumten 17. Jh. nahtlos einfügte, wirkte seine Bibelszene, die im benachbarten Wohn- und Speisezimmer in schwer geschnitztem Goldrahmen vor blauem Damast hing, aus heutiger Sicht als irritierender Fremdkörper.

Denn anders als barocke Darstellungen des „Salomonischen Urteils“ strebt der Maler Piloty nach geschichtlicher Authentizität seines Bildsettings mittels orientalisierender Kostüme und illusionistisch gemalter Bildrequisiten: Es scheint, als wolle er das wissenschaftliche Ziel seines berühmten Zeitgenossen, des Historikers Leopold von Ranke, in Malerei übertragen: „Zeigen, wie es wirklich gewesen ist“. Statt der überzeitlichen Wahrheit biblischer Erzählung, die in älteren Gemälden meist im Mittelpunkt steht, beschwört der Historienmaler des 19. Jh. die Überzeugungskraft einer quellengestützten Wahrhaftigkeit der Ereignisse – ein Bestreben, das in die Zukunft verweist: „Und die Bibel hat doch recht“ heißt ein populärwissenschaftliches Sachbuch von 1955, welches das Alte Testament mittels archäologischer Erkenntnisse zu bestätigen sucht und noch heute viel gelesen wird. Ähnlich setzt bereits Piloty in seiner Malerei auf Literaturrecherche und das Kopieren ausgegrabener Exponate: Salomos Thron schmücken nicht nur die in der Bibel erwähnten goldenen Löwen, sondern auch assyrische Lamassu (stiergestaltige Schutzdämonen mit Flügeln und Menschenkopf). Auf der Lehne schwebt die geflügelte Scheibe des ägyptischen Sonnengottes Rê, während die Säulen des Palastes mit babylonischen Tempelszenen und dem Haupt der Göttin Hathor vom Nil verziert sind (etwas seltsam berühren vor dieser Kulisse allerdings die weißen Söckchen von Salomos Ratgebern, die anders als ihr mit einer persischen Tiara bekrönter Herr keine Sandalen tragen).

Die akribisch rekonstruierte Staffage macht den Unterschied zur älteren Kunst deutlich: Auch die Maler des 17. oder 18. Jh. faszinierte die ferne Welt des Orients. Eine Chinoiserie oder Türkenszene des Rokoko zeigt aber letztlich stets bewusst Versailler Kavaliere oder Münchner Hofdamen, die nur „Asiaten spielen“ – mittels exotischer Versatzstücke. Piloty hat hingegen den Anspruch, unsere Vorstellung in den Palast eines kleinen nahöstlichen Herrschers um 1000 v. Chr. zu entführen, dessen Repräsentationsstil von der kulturellen Dominanz der benachbarten Supermächte Ägypten und Assyrien geprägt ist. Von Bildern wie diesem führt die Entwicklung direkt hin zu den Klassikern des Stummfilmzeitalters und ihren Materialschlachten: Cecil B. DeMille, der vor turmhohen Pappkulissen ägyptischer Tempel mit 1000 Statisten und allen zehn Geboten in der kalifornischen Wüste das Rote Meer teilt…

In mancherlei knüpft dqw historistische Kunstwollen der Pilotys in München und im Umfeld der Wittelsbacher an ältere Vorbilder an: Schon der Großvater Ludwigs II., König Ludwig I. (reg. 1825-1848), hatte seine Residenzstadt zu einem Zentrum monumentaler Historienmalerei gemacht, wie sie Anfang des 19. Jh. vor allem durch die Schule der „Nazarener“ betrieben wurde. Mit Peter von Cornelius und Julius Schnorr von Carolsfeld berief Ludwig I. deren namhafteste Vertreter als Lehrer an die Münchner Kunstakademie und deckte sie und ihre Schüler mit öffentlichen Aufträgen ein: Die Ausmalung der Hofgartenarkaden, des Königs- und des Festsaalbaus der Residenz mit Szenen aus der mittelalterlichen Heldensage, der bayerischen Landes- und der deutschen Reichsgeschichte. Die Nazarener huldigten in erster Linie einer idealistischen Kunstauffassung, die sich an der harmonischen Schönheit italienischer Renaissancemalerei orientierte. Sie schöpfen insofern ein Stück weit aus anderen Quellen als ihre Nachfolger, die Pilotys und deren Zeitgenossen.

Sitzt das Kettenhemd auch korrekt? Für die romanischen Hintergrundsarchitekturen seiner Nibelungenfresken wälzte Schnorr Nachschlagewerke und beriet sich mit Hofbühnenbildner Quaglio

Sitzt das Kettenhemd auch korrekt? Für die romanischen Hintergrundsarchitekturen seiner Nibelungenfresken wälzte Schnorr Nachschlagewerke und beriet sich mit Hofbühnenbildner Quaglio

Aber auch schon Schnorr und seine Schüler strebten im Ansatz nach einer authentischen Darstellung überprüfbarer historischer Bilddetails, sei es im Kostüm oder mit Blick auf ihre Architekturkulissen. Dies geschah nicht zuletzt auf Drängen des königlichen Auftraggebers, der beispielsweise verlangte, wenn zeitgenössische Porträts der dargestellten Persönlichkeiten überliefert waren, diese jeweils in aktuelle Bildkompositionen zu kopieren: Aus solch einer möglichst korrekten Wiedergabe des geschichtlichen Rahmens erhoffte sich Ludwig I., auch die historische Wahrheit der dargestellten dynastischen Heldentaten ableiten zu dürfen: Die von ihm geförderten Künstler sollten die in Jahrhunderten gewachsene Legitimität Wittelsbacher Herrschaft im Medium der Historienmalerei propagieren, gemäß der Ansage des Münchner Akademiedirektors Wilhelm von Kaulbach: „Geschichte müssen wir malen, Geschichte ist die Religion unserer Zeit, Geschichte allein ist zeitgemäß!“

Auch der Bilderschmuck im Residenzappartement Ludwigs II. mit Pilotys „Salomo“ kann als eine solche Manifestation säkularer Geschichts-Religion gelesen werden – und auf einmal erscheint biblischer Bombast nicht mehr als Fremdkörper, sondern als moderne Version der eingangs vorgestellten Herrschaftspropaganda in bewährter Wittelsbacher Tradition: Im Audienzzimmer empfing den Eintretenden eine großformatige Darstellung der Reimser Krönung des Franzosenkönigs Charles VII. im Beisein der Jungfrau von Orléans, die ihn mit göttlicher Hilfe an die Stufen des Throns geführt hatte (1479). Es folgte das Speisezimmer mit Pilotys „Urteil Salomos“. Mit diesen beiden Sujets waren zentrale Aspekte des „wahren Königtums“ angesprochen, wie es Ludwig II. lebenslang vergeblich, zuletzt ausschließlich im Reich der Kunst für sich zu verwirklichen suchte: Die Sakralität des göttlich verliehenen Herrscheramtes (Charles VII.), die den Monarchen gleichsam zum Hohepriester weiht, und das hieraus abgeleitete Ideal des guten Fürsten, wie es der gleichfalls von Gott auserwählte und ausgezeichnete Salomo verkörpert. Mit Reliefporträts zweier französischer Könige, des „Roi Soleil“ Ludwig XIV. und seines Großvaters, des „bon roi“ Heinrich IV., waren zusätzlich zwei neuzeitliche Beispiele des göttlich verehrten und des gütig zugewandten Herrschers in die Raumdekoration eingebunden. Weitere fürstliche Tugenden wurden im Arbeitskabinett auf großformatigen Gouache-Bildern dargestellt, nun anhand der Wittelsbacher Vorfahren des 18. Jh.: Kurfürst-Kaiser Karl Albrecht, der ungebrochen ins Exil geht, verkörperte Demut und Standhaftigkeit, sein Sohn Max III. Joseph vertrat Weisheit und Toleranz, da er die ihm zugespielten Denunziationen ungelesen verbrannte.

Unbekannter Künstler: Karl Albrecht flieht aus der Münchner Residenz, ehemals im Appartement Ludwigs II.

Schließt Pilotys „Salomo“ im Verein mit den übrigen Historiendarstellungen der Königswohnung so an ältere gemalte Tugendkataloge innerhalb der Residenz an, darf doch auch die Bedeutung zeitgenössischer Kunst für diese opulente Bilderwelt nicht außer Acht gelassen werden. Dies gilt in erster Linie für das zeitgenössische Theater, das sich der gleichen Bildsprache wie die Malerei bediente: Die rhetorischen, weit ausholenden Gesten Salomos, der klagenden Mutter und ihrer verstockten Gegnerin verweisen auf die Welt der Bühne und das wenig später einsetzende Stummfilm-Zeitalter, ebenso wie die plakativ sprechenden Mienen der konsternierten Ratgeber. Auch Bildfiguren wie Salomos Henker sind als Rollentypus fest etabliert: Es ist der bekannte „Schwarze Sklave“, der als willfähriges Naturgeschöpf schon in den Märchen von 1001 Nacht verbraten wird und später im 18. Jh. als kindlich-naiver „Kammermohr“ durch die Rokoko-Boudoirs geistert.

Täuschend echter Theaterprunk: Ein von Ludwig II. in Auftrag gegebenes Bühnenbildmodell der Versailler Spiegelgalerie

Täuschend echter Theaterprunk: Ein von Ludwig II. in Auftrag gegebenes Bühnenbildmodell der Versailler Spiegelgalerie

Hinsichtlich des Settings schwelgte nicht nur die Malerei, sondern auch das Theater des Historismus im Ausstattungs-Illusionismus. Exotische Opernsujets erfreuten sich bei Ludwig II. und seinen Zeitgenossen höchster Beliebtheit: Gounods „Königin von Saba“ (1862) oder Massenets „Roi de Lahore“ (1877) entzückten mit effektvollen Bühnenbildern, Wiederaufnahmen wie Méhuls „Joseph in Ägypten“ oder Rossinis „Mosè“ entführten die Zuhörer in biblische Welten und stellten ihnen Pilotys Bildkompositionen dreidimensional vor Augen. Einmal mehr ergibt sich der Bezug zum wenige Jahrzehnte später aufkommenden Historien- und Sandalenfilm, oder – zeitlich näher – zum gemalten Panorama, das den Betrachter in ein auf einen Rundhorizont gemaltes Geschichtsbild eintreten lässt. Als junger Mann hatte Piloty selbst an einem solchen Panorama der Stadt Jerusalem mitgearbeitet – vielleicht konnte er dabei Anregungen für seine spätere Darstellung des Salomonischen Palastes sammeln? Zumindest ist noch heute bei einem Besuch des historischen Bibelpanoramas im bayerischen Wallfahrtsort Altötting, das gleichfalls die Stadt Jerusalem und zusätzlich den Hügel Golgatha samt Kreuzigung zeigt, die suggestive Wirkung zu erahnen, die eine solche illusionierende Einbindung in das christliche Heilsgeschehen auf die Betrachter des 19. Jh. machte. Der berühmte königliche Wintergarten auf dem Dach des Festsaalbaus, der von Ludwigs II. neobarocken Appartement aus in eine exotische Tropenlandschaft führte, die von der gemalten Kulisse einer indischen Himalaya-Landschaft begrenzt wurde, erscheint als konsequente Übertragung derartiger ästhetischer Erfahrungen in die eigene Lebenswirklichkeit. Das bewusst kontrastierende Nebeneinander zweier Erlebniswelten, das die Ausstatter und Architekten des „Märchenkönigs“ hier inszenierten: Exotisches Gartenparadies Tür an Tür mit Versailler Goldglanz – ist für das historistische Kunstwollen charakteristisch. Es spiegelt sich in kleinerem Maßstab in der unbefangenen Präsentation unseres archäologisch aufgerüsteten Bibelbilds inmitten der verschnörkelten Louis XIV.-Pracht. Der hier manifeste Wille zum Stilpluralismus zeichnet die oftmals geschmähte Kunstepoche in besonderer Weise aus – sie speist sich aus einem wissensgesättigten Zugriff auf das Motivrepertoire der Kultur- und Weltgeschichte aus historischer Distanz. Es ist der Blick, dem auch Ferdinand Piloty sein „Urteil des Salomo“ unterwirft.